10 Jahre Datenjournalismus: Gemischte Gefühle

Mit gemischten Gefühlen schaue ich auf das Genre Datenjournalismus. Ich selbst bin in dem Bereich gar nicht mehr aktiv. Einzig gebe ich ab und zu noch Trainings zum Thema. So ist es vielleicht kein Wunder, dass mich in letzter Zeit keine Anfragen mehr erreichen, ob ich für ein Interview für eine Bachelor- oder Masterarbeit zur Verfügung stehe. Für einige Jahre habe ich – wie auch andere Kolleg/innen – solch Interviews etwa einmal im Monat gegeben. Überhaupt dürfte kaum ein journalistisches Genre in jüngster Zeit so dicht durch wissenschaftliche Forschung  begleitet worden sein. Das Abklingen der Anfragen mag aber vielleicht auch ein Zeichen dafür sein, dass sich das Thema abgenutzt hat (wobei erst unlängst eine lesenswerte, wenn vielleicht auch ernüchternde Masterarbeit (pdf) dazu erschien).

Aber selbstverständlich betrachte ich die Vorgänge in dem Genre weiter und freue mich über ausgezeichnete Arbeiten wie dieses Stück zum Irrsinn der geplanten Bahnhofsverlegung in Hamburg-Altona. Tatsächlich liegen mir mittlerweile Beiträge wie die Experimente rund um Deep Fakes von SRF Data aber mehr. So würde ich argumentieren, dass diese Art von Journalismus im Digitalen mit Datenjournalismus (methodisch) verwandt ist. Doch befasst sich Algorithmic Accountabilty Reporting mehr mit den Auswirkungen von Softwaresystemen – statt allein auf Datensätze zu schauen.

Als ich 2010 dieses Blog begann, lag der Start des Datablogs des Guardian ein Jahr zurück. Die Berichterstattung zu den „Afghanistan Warlogs“, die auf der ersten großen Wikileaks-Enthüllung fußte, zeigte bald auf, was Datenjournalismus kann. Tools begannen zu sprießen. Neben Google Fusion Tables – das nun bezeichnerweise Ende 2019 eingestellt werden soll – etablierten sich Player wie CartoDB oder auch DataWrapper (seit 2012). Die auf statistische Operationen spezialisierte Programmiersprache R machte Karriere, Google/OpenRefine erschien und nicht zu vergessen: Google Spreadsheets. Der Traum von der eierlegenden Wollmilchsau scheint nun mit Workbench fast wahrhaftig zu werden.

Für Datenjournalismus stellte der Guardian Datablog ein Meilenstein dar (und ich leite vom Jahr seiner Gründung das 10-jährige Jubiläum ab). Dass sein Gründer, Simon Rogers, längst auf die Seiten der PR gewechselt ist und nun – nach einer kurzen Zwischenstation bei Twitter – bei Google für dessen News Initiative arbeitet, ist symptomatisch. So wird auch die 2. Ausgabe des „Data Journalism Handbooks“ u.a. durch den Internetkonzern gesponsert. Meiner Meinung nach ist es bedenklich, dass Google das Thema so mit Beschlag belegen kann. Aber es ist eben gleichfalls symptomatisch: Es gibt kaum andere Geber, schon gar nicht in Europa & Deutschland, die so etwas stemmen wollen.

Die erste Version des Handbuchs, 2012 erschienen, hatte eine identitätsstiftende Funktion. Jede und jeder, die und der sich als Datenjournalist/in verstand oder verstehen wollte, konnte sich darauf beziehen. Gleichzeitig formte sich dadurch eine internationale Community. Übrigens eines der angenehmsten Phänomene beim Datenjournalismus: Nicht zuletzt durch Anleihen aus der Kultur von Open Source-Softwareentwicklung spielte und spielt der Austausch und die Kollaboration, auch über Redaktions- und Ländergrenzen hinweg, immer eine wichtige Rolle. Nebeneffekt: Das Genre war und ist für Neueinsteiger recht zugänglich. (Allerdings sind Versuche, die Community in Dtl. besser zu organisieren, eingeschlafen. Siehe etwa „DDJ DACH“ oder den „DDJ Katalog„.)

Die Fachliteratur, die dich explizit Datenjournalismus widmet, ist seither sehr überschaubar geblieben. Dennoch dürfte kaum jemand bezweifeln, dass data driven journalism (DDJ) sich als Genre etabliert hat. Neben expliziten Datenteams in Redaktionen und diverse Konferenzen sprechen dafür einige Preise, die Arbeiten in der Sparte auszeichnen. Und auch hier wird etwas deutlich: Zwar ist Datenjournalismus ein Genre geworden, es ist und bleibt aber eine Nische; die in dem Bereich Tätigen sind ein verhältnismäßig kleiner Zirkel.

Stagnation in der Nische

So stammen etwa die Arbeiten, die es beim deutschen Reporterpreis in die Nominierung schaffen, im wesentlichen von einer Handvoll Redaktionen im deutschsprachigen Raum. Denn Datenjournalismus muss man sich leisten können: Sei es, Personen dafür freizustellen, sich damit zu befassen und sich dazu weiterzubilden. Oder gar darauf spezialisiertes Personal einzustellen oder punktuell extern einzukaufen. Zudem braucht es oft Subventionen: So wird der Gewinner des diesjährigen Datenjournalismus-Reporterpreises – der „Radmesser“ des Tagesspiegel – indirekt mit einer fünfstelligen Summe aus öffentlich-rechtlichen Mitteln gefördert: Durch Gelder vom Medieninnovationszentrum Babelsberg (MIZ), das wiederum zur Medienanstalt Berlin-Brandenburg gehört.

Tatsächlich sind es nicht zuletzt die durch die Allgemeinheit finanzierten öffentlich-rechtlichen Sender, die sich explizite Datenteams leisten. Im privatwirtschaftlichen Sektor haben sich vor allem Zeit Online, Spiegel Online, Süddeutsche Z. und Funke Interaktiv (ehemals Berliner Morgenpost) einen Namen gemacht. Dazu gesellt sich im gemeinnützigen Bereich noch Correctiv. Auch gibt es die ein oder andere Regional-/Lokalzeitung, die sich eine Art Datenjournalisten leisten. Hinter all dem stecken dann durch verschiedene Geschäftsmodelle bedingte Motivationen: Die einen investieren in sie als Teil eines Rechercheabteilung oder als „Enabler“ für verschiedene Ressorts; andere sehen sie als Aushängeschild/Preismaschine oder gar Fördermittelgenerator.

Allerdings meine ich, eine Stagnation zu beobachten: Lebte das Genre in den ersten Jahren vom Reiz des Neuen, das Dank aufsehenserregender Visualisierungen hervorstach, sind die Formate nun weitgehend ausgereizt. Dadurch setzte sicherlich auch ein reiferer Umgang mit dem Genre ein (die bereits verfügbaren Beiträge der bereits erwähnten 2. Version des Data Journalism Handbook zeugen davon). Doch der Drang zum Leuchtturm-Projekt (oder Liebhaber-Projekt einzelner Redakteure) herrscht weiter vor. Ich persönlich finde das mittlerweile recht ermüdend, weil eben keine Weiterentwicklung zu erkennen ist: Weder thematisch noch konzeptionell. Im Gegenteil: Die Themensetzung wirkt oft wahllos oder gar willkürlich.

Hinter den datenjournalistischen Veröffentlichungen der Redaktionen steht, so scheint es, jenseits von langgeplanter Wahlkampfberichterstattung oder großen Recherchen (div. Papers & Files) kein Gesamtkonzept. Viele Stücke verschwinden nach einigen Tagen im großen Rauschen der CMS der Publikationen. Angebrachter (auch wirtschaftlicher) wäre es meiner Meinung nach im Sinne von Nachhaltigkeit zu agieren: Wir versuchen gesellschaftliche Vorgänge langfristig mit Daten zu beschreiben und zu analysieren. Sei es die Vorgänge auf Social Media-Plattformen zu monitoren. Oder seien es Arbeitslosen- und Wirtschaftszahlen, Zahlen zu Rente, Wohnen, Energie, Umwelt, Bildung und Mobilität. Ganz zu schweigen vom Etablieren von Sensornetzwerken für Umweltdaten, die man in seinem Verbreitungsgebiet fest installiert.

Die Devise hätte kurzum lauten können: Wir schaffen einen Ort, an dem Themen, die vielen unter den Nägeln brennen, datengetrieben leben. Der für die Leser/Nutzer als Anlaufpunkt dient. Wo Themen aktualisiert und weitergeschrieben werden. Was hätte die Süddeutsche Zeitung heute für einen kontinuierlichen Story-Lieferanten und ein weiter vielgeklicktes Angebot nebst Datenschatz, hätte sie den Zugmonitor (den wir 2013 bei OpenDataCity mit der SZ umsetzten) bis heute weiterbetrieben und -entwickelt? Auch Service-Datenjournalismus, siehe etwa Betongold (SpOn) oder der Schulfinder von der Morgenpost, verschwindet in den Untiefen der Websites, weil solch Angebote keinen klar definierten Raum auf ihnen haben.

Ein anderer Aspekt, bei dem Datenjournalismus hinter den Erwartungen zurückblieb, war sein Effekt auf die „data literacy“. Die Kompetenz mit Datensätzen bzw. mit Statistik umzugehen zu können, würde durch ihn in den Redaktionen steigen, war oft zu hören. Doch gibt es heute nahezu täglich in der journalistischen Berichterstattung den Beweis zu finden, dass dies weitflächig nicht eingetreten ist. So können etwa zweifelhafte Studien um „Social Bots“ wilde Blüten treiben.

Verflogene Aufbruchstimmung

Selbstredend gibt es auch diverse externe Faktoren für den Stillstand. Zum einen hat sich das Gros der Verlegerzunft den Herausforderungen im Digitalen nicht gewachsen gezeigt. Gab es vor einigen Jahren noch viel Diskurs über die „Zukunft des Journalismus“ scheint mittlerweile eher eine Schockstarre vorzuherrschen. Auch wenn sich verbissen gegenseitig Lieder von Innovation & Co vorgesungen werden. Doch sprechen viele Gründe dafür, dass hierzulande die Vielfalt im journalistischen Medienbetrieb in den nächsten Jahren schrumpfen dürfte. Dass unter diesen Vorraussetzungen kostspielige Genres wie Datenjournalismus eingespart werden, ergibt auf Basis der oft kurzfristig gedachten Betriebswirtschaft Sinn. Allerdings ist auch schwer zu zeigen, inwiefern Datenjournalismus Journalismus im Digitalen attraktiver und bezahlwürdiger gemacht haben könnte.

Zum anderen ist die Aufbruchstimmung von vor zehn Jahren, die auch einherging mit der Konjunktur der Konzepte von Open Data und Open Government, längst verflogen. Die etablierte Politik und Verwaltungen mauern bei diesen Themen in der Regel weiterhin und belassen es bei Lippenbekenntnissen. Als nahezu durchkommerzialisierter Ort ist das Internet weiter denn je davon entfernt, ein Werkzeug für emanzipatorischen Fortschritt zu sein.

Letztlich lautet meine Prognose, dass es selbstverständlich Datenjournalismus weiter geben wird. Es wird immer wieder den ein oder anderen beachtenswerten Leuchtturm geben. Doch sehe ich darüberhinaus wenig Anzeichen, dass eine Weiterentwicklung des Datenjournalismus‘ stattfindet und annähernd sein Potential ausgeschöpft wird. Das Genre wird in seiner Nische bleiben, die hierzulande eher schrumpfen wird. Seinen Zenit, so scheint es mir, hat der Datenjournalismus schon überschritten.

2 Gedanken zu „10 Jahre Datenjournalismus: Gemischte Gefühle“

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