B117-Alarmismus in der SZ

Corona-Prognosen mit Pi-mal-Daumen-Daten

Über den möglichen Effekt der Corona-Mutante B117 auf den Pandemieverlauf in Deutschland gab die Süddeutsche Zeitung unlängst Prognosen ab. Diesen Teil des Stücks „Die unsichtbare Welle“ halte ich für Alarmismus. Wohlgemerkt geht es nicht darum, zu sagen, die Mutation B117 sei nicht ansteckender oder sie sei harmlos. Der Punkt ist: Ihr Effekt lässt sich schwer vorhersagen und die Herleitung der Szenarien der SZ steht auf wackeligen Füßen. (Die SZ recyclt die alarmistische Prognose zahlenmässig leicht entschärft in einem Beitrag (Paywall) von heute: „Die magische 50“. Der Spiegel veröffentlichte (Paywall) heute ebenfalls Modellrechnungen, die auf ähnlichen Annahmen wie die der SZ fußen.)

[Siehe Kommentar von zwei der Autoren unten.]

Eine der Prognosegrafiken aus der SZ

Um den Einwand vorwegzunehmen, dass die SZ im Text sehr wohl auf „Unsicherheiten“ hinweisen würde: Meiner Meinung nach ist es nicht Aufgabe von Journalismus, Spekulation zu betreiben. Wenn ein gewisses Maß an Unsicherheit herrscht, wenn etwas „ähnlich schwer zu kalkulieren“ ist, dann sollte man es besser einfach lassen. Prognosen sind nicht das Geschäft von Journalismus, geschweige denn die unterkomplexe Modellierung von Pandemieverläufen.

Denn so kommt es zu solch‘ Geraune: „Ohne einen verschärften Lockdown“ und ohne einen Impfeffekt, so die SZ, wäre „sogar eine Inzidenz von mehr als 1000 gegen Ende April möglich.“ Die Steilheit diese These wird dann noch in einem Diagramm präsentiert: So tritt das Problem der autoritativen Wirkung von Datenvisualisierungen ein. Die werden schnell als wahrhaftig wahrgenommen – noch mehr, wenn sie weitgehend kontextfrei auf Social Media zirkulieren. Darüber schrieb ich vor einigen Wochen – lustigerweise auch unter dem Titel „Die unsichtbare Welle“ – für den Freitag.

Gummimetrik Inzidenz

Die SZ legt ihren Prognosen den „R-Wert“ und die 7-Tagen-Inzidenz zugrunde. Beide Metriken sind hierzulande recht grobe Indikatoren für den Pandemieverlauf (siehe dazu diese Diskussion des R-Werts beim BR.) Warum sind sie grob? Weil sie beide einzig aus der Anzahl der positiven Tests abgeleitet werden: Wird weniger getestet, sinkt die Zahl der erkannten Infektionen; steigt die Zahl der Tests, steigt auch die Zahl der erkannten Infektionen.

Selbstredend gibt es keinen direkten 1-zu-1 Zusammenhang zwischen einem Steigen oder Sinken der Testanzahl und den erkannten Infektionen. Vielmehr ist es ein Trend: Er ist abhängig davon, ob gerade eine Ausbruchssituation herrscht oder die Pandemie abklingt – was sich dann eben auch in steigenden oder sinkenden Positivraten zeigt. Es spielen neben der derzeitigen Impfstrategie auch regionale Unterschiede im Pandemieverlauf in den Inzidenzwert hinein (und heben sich dann auf nationaler Ebene möglicherweise wieder auf); dazu gesellen sich diverse Verzerrungen wie durch die Inkubationszeit, zeitliche Verzögerung bei den Meldungen der erkannten Fälle etc.. Würde man mehr testen (oder gar systematisch Kontrollgruppen beobachten) wäre der Inzidenzwert aussagekräftiger. Doch im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien und Dänemark wird in Dtl. deutlich weniger getestet; nur etwa die Hälfte der Testkapazitäten von 2,3 Mio./Woche wird derzeit ausgeschöpft (siehe RKI-Lagebericht 3.2.2021, S. 11).

Schließlich kommt noch die Dunkelziffer ins Spiel: Wie hoch ist die Zahl derjenigen Infizierten, die symptomlos (aber ansteckend) sind sowie derer, die sich krank und ungetestet zur Arbeit schleppen usw. usf. ? (Von der vom RKI im Herbst 2020 angekündigten Antikörperstudie gibt es weiterhin keine Neuigkeiten.) Gängige Schätzungen über die Höhe der Dunkelziffer liegen beim 2-6 fachen der erkannten Infektionen. Sprich: Wenn von einer 7-Tage-Inzidenz unter 50 exklusive der Dunkelziffer als Zielmarke gesprochen wird, ist eigentlich eine tatsächliche 7-Tage-Inzidenz inklusive Dunkelziffer von ungefähr 150 bis 350 Infektionen pro 100.000 Einwohner*innen gemeint. Der Inzidenzwert in seiner gebräuchlichen Form hat also in etwa die Qualität einer Pi-mal-Daumen-Metrik.

Fiktion von harten Daten

Die SZ nimmt also nun diese schwammigen Inzidenzwerte und ignoriert die Problematik der Dunkelziffer: Statt diese Unzulänglichkeiten wenigstens zu erwähnen, wird der Eindruck vermittelt, hier würde mit harten Daten hantiert. Um die Fiktion nicht zu stören, wird auch kein Konfidenzintervall (statistischer Fehler) gezeigt. Vier Szenarien für eine höhere Ansteckungsrate von der B117-Mutante werden berechnet: 30, 40 und 50 Prozent höhere Ansteckungsrate bei „gleichbleibenden“ Lockdown-Maßnahmen sowie ein Szenario mit 40 Prozent und „verschärften“ Maßnahmen. Unklar bleibt:

  • Woher weiß die SZ, dass der Ausbruch in UK Ende des Jahres 2020 maßgeblich durch B117 getrieben war (und nicht bspw. auch die Weihnachtszeit ohne harten Lockdown eine Rolle spielte)? Wenn die SZ also eine Quelle für ihre Annahme hat, wäre es hilfreich gewesen, wenn sie benannt worden wäre.
  • In UK gab es einen zügigen Rückgang der erkannten Infektionen diesen Januar trotz der Dominanz der infektiöseren B117-Variante. Anhand welcher Grundlage bewertet die SZ die Effekte der Maßnahmen in UK (Tier 4) im Unterschied zu den vermeintlich unzureichenden Maßnahmen in Deutschland?
  • Wie lässt sich eine Bewertung, wie ausreichend welche Maßnahme in Deutschland funktionieren, vornehmen, wenn weiterhin weitgehend unklar ist, wo Ansteckungen geschehen? Inwiefern kann die SZ beurteilen, ob die derzeitigen Maßnahmen hierzulande nicht ausreichen, die Neuinfektion bei Ausbreitung der B117-Variante zu bremsen? Kennt die SZ wissenschaftliche Untersuchungen dazu? Eben erst begonnen hat die Studie „StopptCovid“.
  • Was meint die SZ genau mit „verschärfte Maßnahmen“? Wie berechnet sie über mehrere Monate im Voraus, welchen Effekt diese haben könnten? Bezieht sie in ihre Prognose in irgendeiner Form die Auswirkungen der steigenden Impfzahlen sowie die weiter steigende Anzahl von mit Corona-Antikörpern ausgestatteten Personen (erkannte Infektionen plus Dunkelziffer) ein?

Als neulich die taz Stimmungsmache hinsichtlich der B117 Mutante veröffentlichte, habe ich das als Datenboulevardjournalismus kritisiert. In einer Zeit, in der viel Verunsicherung herrscht, sollte Journalismus nicht Ängste schüren. Sondern für Klarheit sorgen, Wissenslücken benennen und einen fundierten Diskurs ermöglichen. Dazu trägt der Prognoseteil des besagten Stücks der SZ wenig bei.

3 Gedanken zu „B117-Alarmismus in der SZ“

  1. Lieber Lorz,
    „einem Journalisten ist das Stellen von Fragen natürlich erlaubt, vorausgesetzt, er ist an Antworten interessiert“, schrieb Lorenz Meyer neulich. Von daher könnten deine Leser vielleicht mehr aus deinem Beitrag lernen, wenn du uns deine Fragen vorab geschickt hättest. Aber sei’s drum, gern beantworten wir sie auch noch jetzt. Solche Blogs haben ja ne Editierfunktion. Vorausschicken möchte ich noch, dass wir unsere Annahmen und die Grafiken vor der Publikation mit mehreren Epidemiologen besprochen haben, zusätzlich zur umfassenden Literaturrecherche.

    * „Woher weiß die SZ, dass der Ausbruch in UK Ende des Jahres 2020 maßgeblich durch B117 getrieben war (und nicht bspw. auch die Weihnachtszeit ohne harten Lockdown eine Rolle spielte)? Wenn die SZ also eine Quelle für ihre Annahme hat, wäre es hilfreich gewesen, wenn sie benannt worden wäre.“

    –> Soweit wir wissen, war Weihnachten im ganzen Vereinigten Köngireich zur gleichen Zeit. Der Anteil an B117 stieg aber nicht überall gleichzeitig und gleichermaßen an. Diese lokalen Anteile korrelieren sehr gut mit dem Anstieg der Infektionszahlen. Dazu gibt es mehrere Studien, die für allerhand Kontrollvariablen kontrollieren. Teilweise kommen die von der London School of Hygiene and Tropical Medicine, Sebastian Funk gehört zu den Autoren, insofern sind die Quellen sogar genannt – auch wenn wir tatsächlich nicht die ganze Beweisführung im Text untergebracht haben.

    * „In UK gab es einen zügigen Rückgang der erkannten Infektionen diesen Januar trotz der Dominanz der infektiöseren B117-Variante. Anhand welcher Grundlage bewertet die SZ die Effekte der Maßnahmen in UK (Tier 4) im Unterschied zu den vermeintlich unzureichenden Maßnahmen in Deutschland?“
    –> In UK gibt es eine sehr strikte Einschränkung der privaten Kontakte, nur unter bestimmen Bedingungen darf man überhaupt noch Leute aus anderen Haushalten treffen. Es gibt noch weitere Aspekte, diese sind im Text genannt.

    * „Wie lässt sich eine Bewertung, wie ausreichend welche Maßnahme in Deutschland funktionieren, vornehmen, wenn weiterhin weitgehend unklar ist, wo Ansteckungen geschehen? Inwiefern kann die SZ beurteilen, ob die derzeitigen Maßnahmen hierzulande nicht ausreichen, die Neuinfektion bei Ausbreitung der B117-Variante zu bremsen? Kennt die SZ wissenschaftliche Untersuchungen dazu? Eben erst begonnen hat die Studie „StopptCovid“.“

    –> Das ist Mathematik. Wenn die Reproduktionszahl etwa bei 0.9 liegt und B.1.1.7 um 30-50% ansteckender ist (und ja, das ist sie, dazu kennen wir zahlreiche Studien) kommt man deutlich über 1 raus. Wenn man sowohl beim aktuellen R-Wert als auch beim Effekt der Mutante ans untere Ende der Konfidenzintervalle geht, gibt es eine kleine Möglichkeit für ein R Verschärfte Maßnahmen bedeuten: eine niedrigere Reproduktionszahl. Wie sich das konkret erreichen lässt, ist eine eigene Debatte. Dass es geht, zeigen zahlreiche andere Länder. Impfungen und Antikörper sind in unserer einfachen Modellrechnung nicht berücksichtigt. Wir gehen davon aus, dass der Effekt im gezeigten Zeitraum vernachlässigbar ist.

    Zwei Bemerkungen noch: Man kann die Inzidenzen in den Grafiken mit einer beliebigen Dunkelziffer multiplizieren, es ändert sich nichts an den Trends. Natürlich ist es denkbar, dass sich die Dunkelziffer durch die Ausbreitung von Mutanten ändert, aber darüber kann man momentan nur spekulieren.
    Und der Begriff Prognose kommt in unserem Beitrag nicht vor, darin sehen wir nicht unsere Aufgabe. Wir zeigen einfache Modellrechnungen, die einen möglichen Effekt illustrieren sollen

    Viele Grüße,
    Christian Endt und Sören Müller-Hansen

    1. Vielen Dank für die Antwort. Leider geht ihr ja auf den wesentlichen Punkt der Kritik an euren „Fortschreibungen“, die eine mögliche zukünftige Entwicklung zeigen, aber keine Prognosen sein wollen, nicht wirklich ein: Was unterscheidet den Lockdown in UK und Dtl.? Ja, ihr gebt ein paar Hinweise auf die Maßnahmen in UK. Aber woran macht ihr fest, dass die qualitativ so viel wirksamer sind als in Dtl.?

      Der R-Wert in UK und der in Dtl. sind nur bedingt vergleichbar, weil ihnen unterschiedliche Methoden zugrunde liegen. Warum der hiesige R-Wert ein fragwürdiges Maß ist, habe ich versucht darzulegen. Warum haltet ihr ihn für eine so aussagekräftige Metrik? Dass der R-Wert einen Trend wiedergibt, ist richtig. Aber wenn die Dunkelziffer hoch ist und ständig schwankt, dürfte es einen hohen „unsichtbaren“ statistischen Fehler beim R-Wert geben.

      Witzig ist, dass ihr bestätigt, dass man über den Effekt der Dunkelziffer auf die Ausbreitung der Virusmutationen nur spekulieren kann. Also lasst ihr das lieber aus eurem Modell raus und spekuliert damit darauf, dass er keinen Effekt hat.

      Eure Antwort auf die Frage, wie ihr auf den Faktor bei der „verschärften“ Maßnahme kommt, verstehe ich nicht. Es war ja nicht die Frage, ob es geht, sondern wie anhand welcher Annahmen oder gar Studien ihr das wie herleitet.

  2. Ich finde schon, dass es Aufgabe von Journalismus ist, Zahlen einzuordnen. Dazu gehören Artikel wie der SZ, die ein worst case Szenario entwickeln, und auch sauber auf die Annahmen hinweisen. Ebenso wie dieser Artikel, wo Dinge kritisch gesehen werden. Ideal war mMn der Artikel vom Spiegel, der beides tut, ein worst case Szenario abbilden und gleichzeitig Alternativverläufe darstellen. Es ist Aufgabe des Lesers, sich dann aus diesen Quellen selbst ein Bild zu machen. Der Vorschlag hier, wenn man Unsicherheiten in den Daten hat, jede Interpretation lieber zu lassen hilft hingegen dem Ziel, den Leser zu informieren nicht weiter.

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