Für viele Datenjournalistinnen und -journalisten hierzulande wird der kommende Sommer wohl wenig Verschnaufpausen bieten. Das Ende der Pandemie (zumindest in Europa) ist zwar in Sicht, wenn auch nicht vollends ausgemachte Sache. Doch in den Datenteams in den Redaktionen in Deutschland dürften sich bereits viele Blicke auf die Wahlen im Herbst richten. In dem dazugehörigen Wahlkampf spielt Klimapolitik schon jetzt eine wesentliche Rolle.
Die Covid19-Pandemie bedeutete eine Zäsur für den Datenjournalismus. Markierten die Afghanistan War Logs von 2010 quasi die Geburtsstunde des data-driven-journalism, hat er es zehn Jahre später tagtäglich auf die Start- und Titelseiten geschafft. Waren zuvor Graphen und Tabellen nur im Sport und bei der Börse sowie Kartenvisualisierungen im Wetter täglich wiederkehrender Bestandteil, sind jetzt Dashboards, Graphen, Diagramme und Karten zu Infektionszahlen & Co. normal geworden. Zudem finden sich mittlerweile ellenlange, über viele Monate angewachsene und verfeinerte Datendossiers vollgepfropft mit Diagrammen auf diversen Nachrichtenwebsites.
Angesichts der erfreulichen Klickzahlen für die Datenstücke wird sich in Redaktionen sicher Gedanken darüber gemacht, was demnächst an die Stelle der Infektionszahlen treten könnte. Es liegt auf der Hand, dass Klimadaten-Dashboards ein möglicher Ersatz wären. Doch die hohe Aufmerksamkeit für die Pandemiedaten rührt daher, dass es um Fragen von Gesundheit, gar um Leben und Tod ging – des eigenen und des der eigenen Nächsten. Zudem hingen unmittelbare, spürbare Einschränkungen von der Entwicklung der Zahlen ab.
Auch wenn die Klimakrise mit jedem Einzelnen im Zusammenhang steht, ist es doch deutlich schwerer den unmittelbaren Bezug abzubilden und erfahrbar zu machen. Das ist die Crux der Klimakrisenkommunikation: Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass der Klimawandel kommt, doch passiert ist zu wenig – auch weil die Folgen scheinbar weit in der zeitlichen Ferne liegen und die Klimawandelphänomene über den gesamten Globus scheinbar unzusammenhängend verteilt sind.
Einsparziele auf den Zahn fühlen
Wie lässt sich die Verschränkung der abstrakten Klimakrise mit dem Leben der/des Einzelnen weniger abstrakt vermitteln? Und wie tappt man dabei nicht in die Falle, die Klimakrise als individuelles Problem zu framen? Etwa wie der PR-Trick, den 2004 der Ölkonzern BP mit dem Carbon Footprint ersann.
Klimadatenjournalismus sollte es nicht darauf beruhen lassen, Temperaturanstiegsprognosen, schmelzendes Eismassen und schrumpfende Kohlenstoffbudgets wiederzugeben; vielmehr muss er sich darum drehen, vollmundig angekündigte Einsparziele wie jetzt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts anhand von Daten auf den Zahn zu fühlen: Sind die angekündigten Maßnahmen konkret genug, erscheinen sie realistisch oder bauen sie auf fragwürdigen Fantasien über z.B. Wasserstofftechnologie und Zertifikatshandel auf? Kontinuierlich wäre zu beobachten, wer und was dem Erreichen der Ziele im Weg steht.
Nimmt man beispielsweise obenstehende Grafik, könnte Klimadatenjournalismus nun anhand existierender Studien skizzieren, welche CO2-Preise wohl angemessen wären, um die nötige Emissionsminderung zu erreichen. Und er könnte umreißen, welche finanziellen Effekte das auf Industrie, Land- und Dienstleistungswirtschaft sowie private Haushalte hätte. Vermutlich würde deutlich: Ohne zügige und einschneidende Veränderungen der Konsumgewohnheiten sowie des Individualverkehrs, ohne Abschied vom Wachstumsfetisch und der 5-Tage-Arbeitswoche wird es kaum gehen.
Neue Datenpolitik
Das Problem ist: Dank Satelliten, Sensoren und zahllosen Wissenschaftler*innen haben wir zwar eine recht gute Datenlage und ein fundiertes Verständnis darüber, was hinsichtlich des Klimawandels akut geschieht. Doch die Daten über seine maßgeblichen Verursacher*innen und derjenigen, die Profit auf Kosten des Ökosystems machen, sind wesentlich schwerer zu ermitteln. So fehlen etwa hierzulande transparente Unternehmensregister und generell der Zugriff auf die Finanzflüsse international operierender Unternehmen. Nutznießende des rücksichtslosen Umweltverbrauchs können mit allerlei Tricks ihr Geschäftsgebaren, ihre Investments und ihr Vermögen verschleiern – und damit auch verhindern, sich der Gesellschaft gegenüber verantworten zu müssen.
Um besser die polit-ökonomischen Vorgänge rund um das Klimathema analysieren zu können, bräuchte es also mehr zugängliche Daten über das Wirtschaften von lokal bis global. Vielleicht wäre es Zeit für eine Renaissance der Open Data-Idee, der es bislang oft an einem Alltagsbezug mangelte und die eine gewisse Beliebigkeit atmete. Eine neue Klimadatenpolitik müsste beispielsweise darauf drängen, dass Mobilitäts- und Logistikdaten, die auf der durch öffentliche Gelder bereitgestellten Straßen- und Schieneninfrastruktur entstehen, zumindest auch staatlichen Stellen in „Echtzeit“ zur Verfügung stehen. Ähnlich könnte gelten: Wer CO2-relevanten Handel betreibt, etwa Supermarktketten, muss seinen Kunden*innen Daten über deren individuellen Einkauf (Kassenzettel) auf Verlangen digital als strukturierten Datensatz zur Verfügung stellen. Dann könnten z.B. Redaktionen oder gemeinnützige Organisationen diese per Datenspendenplattformen in Data Trusts zusammenführen, auswerten und Erkenntnisse über Konsumgewohnheiten aufzeigen: Denn will man diese gemeinschaftlich umsteuern, dürfen diese Daten nicht nur in den Datenbanken der Konzerne liegen, sondern müssen der Allgemeinheit zur Verfügung stehen.
Das Konzept CO2-Preis impliziert, dass sich zumindest theoretisch grob näherungsweise berechnen lassen könnte, wie viel CO2-Ausstoß mit jedem verdienten und ausgegebenen Euro verknüpft ist – inklusive des historischen Umweltverbrauchs u.a. durch die seit Kolonialzeiten weiterhin stattfindende Umverteilung von Süd nach Nord. Möglicherweise wäre die Etablierung einer solchen CO2-Parallelwährung hilfreich, um das oben beschriebene Probleme der Abstraktion des Bezugs zur Klimakrise zu überwinden: Das eh schon äußerst abstrakte Konzept „Geld“ ist von jeder/m gelernt und könnte um eine solche Übersetzungsfunktion erweitert werden. Der Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson wirbt seit einiger Zeit für die Einführung einer Carbon Coin, die als Äquivalent für die Vermeidung von CO2-Ausstoß ausgegeben würde.
Mehr Bewegtbild
Datenjournalismus an sich sollte mehr über Formate für Plattformen wie Instagram, TikTok und YouTube nachdenken. Das heißt: Bewegtbild/Animation plus Sprache. Das entspricht der Generation, die nicht mehr wie die vor 1990 geborene mit Text/Print als Primärmedium aufgewachsen ist, sondern mit verschiedenformatigen Bildschirmen. Für die Fotos, Grafiken, Clips, Filme, Computerspiele, Chats und Audio gleichrangig neben dem geschriebenen Wort stehen.
Die Frage bleibt wie Klimadatenjournalismus in Kurzformaten funktionieren könnte und welche Themen er bespielt. Zumindest handwerklich können als Inspiration die Dataviz-Videos von Robert Kosara (eagereyes) bei YouTube dienen. Wie auch die Videos von Lisa Charlotte Rost von DataWrapper, etwa dieses zum Thema „Warum sollte man beim Visualisieren ein Ziel haben?“. Klar ist: Es würden weitere Skills und veränderte/erweiterte Arbeitsabläufe in den Datenteams benötigt – und damit mehr finanzielle Ressourcen.
So informativ die ersten Beiträge von KlimaVor8 oder die 24 minütige „data -driven documentary“ von Neil Haloran auch sind: Mangelt es wirklich noch an Aufklärung darüber wie der Klimawandel von Menschen gemacht wurde? Und was bringt ein Bericht über die Probleme beim Erneuerbare-Energien-Gesetz, ohne die dazugehörigen Macht- und Konzerninteressen zu betrachten? Unser dringendstes Problem ist, dass wir ins Handeln kommen. Und Journalismus, speziell auch Datenjournalismus, kann der Gesellschaft dabei helfen, die richtigen Handlungspfade zu entdecken.
Zuerst erschienen auf klimajournalismus.de