Wie Zeit Online mit "Wahlistik" Stimmung macht

Es ist nicht Verkehrtes daran, von erfolgreichen Konzepten zu lernen. Zeit Onlines „Wahlistik“ ist offensichtlich von Nate Silvers viel gelobter Statistikauswertung zur vergangenen US-Präsidentenwahl für die NYT inspiriert. Nun ist es in einem de facto Zweiparteien-System einfacher Vorhersagen zu treffen, als in einem Vielparteien-System wie in Deutschland.

Zeit Online hat ein Verfahren mit Statistikern der Uni München entwickelt: Es nimmt die Durchschnittswerte der jeweils aktuellsten Umfragewerte von vier Instituten als Ausgangsgrundlage. 10.000 Mal werden dann Ergebnisse generiert, die von den Ausgangswerten im Rahmen statistischer Ungenauigkeit zufällig abweichen. Bspw. können in 3524 der simulierten Fälle CDU/CSU und FDP mit ihren erreichten Sitzen eine Koalition bilden. Das wird als 35% Wahrscheinlichkeit für die Möglichkeit einer Koalitionsbildung Schwarz-Gelb gewertet. Da derzeit trotz simulierter Abweichung Schwarz-Rot und Schwarz-Grün 10.000 Mal möglich sind, erhalten beide Koalitionsoptionen jeweils 100%.

Vielleicht wäre es ratsam gewesen, die Methode auch in einem wiederverwendbaren Schaubild oder in einem Erklärvideo darzulegen. Bis ich jedenfalls verstanden habe, was genau Zeit Online überhaupt mit der Wahlistik sagen will, musste ich mir erst einmal den Kopf zerbrechen. Das liegt zum einen an solch einer Überschrift nebst Vorspann:

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Das ist mindestens missverständlich formuliert: Richtiger wäre die Überschrift, wie es auch im letzten Satz des Vorspanns steht: „Welche Koalition ist am möglichsten?“ Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit sind zwei grundverschiedene Dinge. Die Wahlistik kann eben nur zeigen, wie hoch die Chancen für verschiedene Konstellationen von Koalitionen sind, zustande zu kommen.

Auch diese in der Serie wiederkehrende jeweils aktualisierte Grafik hilft nicht weiter: Sie ist mit „Rechnerische Wahrscheinlichkeiten der Koalitionen“ überschrieben. Hier der Stand vom 16.8.2013:

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Gemeint ist die „Wahrscheinlichkeit einer Koalitionsmöglichkeit“. Eine Grafik, in der mehrere Male 100% auftauchen, würde ich generell vermeiden. Und in diesem Fall würde ich auch keine Balkendiagramm-ähnliche Darstellung verwenden, weil diese Metapher beim Thema Wahlen für etwas anderes steht.

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Vielleicht tue auch nur ich mich schwer und hänge mich an Begrifflichkeiten auf. Für andere mag das mit der Wahlistik glasklar verständlich sein. So oder so, letztlich kommt bei ihr heraus, dass nach aktuellen Umfragen Schwarz-Rot und Schwarz-Grün sicher möglich sein werden – was hinlänglich bekannt ist und ein Blick auf jede Wahlumfrage verrät. Die Süddeutsche zeigt das auf schlichte, aber effiziente Weise als Element ihres Trendmonitors – siehe rechts.

Das einzig Neue an der Wahlistik ist, dass viel Aufwand betrieben wird, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, ob am Wahlabend überhaupt eine Schwarz-Gelbe, Ampel und/oder Rot-Rot-Grüne Koalition zur Option steht.

Warum betreibt Zeit Onine dafür so einen Aufwand? Entweder hatten sie sich mehr von der statistischen Auswertung erhofft oder es geht um etwas anderes. Weil im Rahmen der Wahlistik noch ein „Leihstimmenrechner“ angeboten wird, liegt Letzteres nah. Das überrascht auch nicht bei einem konservativ-liberalen Blatt und seinem Web-Ableger.

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Errechnen lässt sich mit dem Rechner, wie viele Prozent Leihstimmen von CDU/CSU-Wählern notwendig wären, damit Schwarz-Gelb am Wahlabend möglicher würde. Aber, so warnt das Bürgerblatt (der erste Text zur Wahlistik erschien auch in der gedruckten Zeit, dessen Klientel sich wohl noch eher für Schwarz-Gelb erwärmen kann): „Vorsicht: Noch steiler steigen dabei die rechnerischen Chancen für eine Ampelkoalition, bei der die CDU außen vor bliebe.“

Wie hier Stimmung gemacht wird, zeigt auch dieser Artikel vom gestrigen Freitag. Schon die Überschrift könnte als Handlungsanweisung verstanden werden: „Schwarz-Gelb braucht Leihstimmen“. Eingangs heißt es dann:

 „Der Bundestagswahlkampf sei langweilig, hört man allerorten: Schwarz-Gelb werde wohl wieder gewinnen, sagen die Leute, wenn sie sich in der Kneipe überhaupt einmal über Innenpolitik unterhalten.“

Vielleicht glaubt das der Autor wirklich und hält seine Kneipenbesuche für empirische Sozialforschung. „Allerorten“ ist nämlich ebenso zu hören, dass der Wahlkampf langweilig sei, weil er eh auf eine Große Koalition hinausliefe. Der Autor warnt jedenfalls die Wähler, die auf Schwarz-Gelb setzen, davor, sich entspannt zurückzulehnen. Alarm: „Wenn überhaupt, könnten die Leihstimmen den Ausschlag geben. Es könnte auf wenige Stimmen ankommen.“

Der Leihstimmenrechner als praktischer Service für das Bürgertum. Letztlich ist mit die Wahlistik von Zeit Online zu tendenziös. Hier wird mit Statistik Wahlkampf für ein Lager betrieben, was mit Journalismus wenig zu tun hat.

3 Gedanken zu „Wie Zeit Online mit "Wahlistik" Stimmung macht“

  1. Lieber Lorenz, danke für den ausführlichen Kommentar zu unserer „Wahlistik“. Ich gebe Dir recht mit der Kritik, dass wir vielleicht noch deutlicher hätten sagen können, dass wir mit „Wahrscheinlichkeit“ immer die „Wahrscheinlichkeit der Möglichkeit“ meinen. Das steht zwar mehrfach im Text drin, aber wenn’s dann notwendig verkürzt in der Überschrift steht, gibt’s bestimmt wieder Leute, die das falsch verstehen.

    Ganz entschieden verwehren muss ich mich allerdings gegen den Vorwurf, wir würden Wahlkampf für Schwarz-Gelb machen, indem wir die Konsequenzen von zu vielen FDP-Leihstimmen darstellen. Das ist, mit Verlaub, absurd. Wir wollten mit dieser Simulation nur zeigen, welchen Effekt schon minimale Mengen von Leihstimmen haben. Das geht ja den Demoskopen ständig durch die Lappen, die zurzeit alle bei der FDP einfach „5%“ schreiben, weil sie damit am wenigsten falsch machen können. Den Effekt für die (nach allen politischen Erklärungen ja erstmal ausgeschlossene, aber mathematisch interessante) Ampelkoalition fand ich einfach nur witzig und erhellend. Die Simulation zeigt deutlich die extreme „Hebelwirkung“ von ein paar verschobenen FDP-Stimmen. Wenn dadurch ein paar CDU-Wähler davon abgeschreckt werden, ihre Stimme der FDP zu leihen, soll’s mir recht sein.

    1. Danke für den Kommentar. Ja, ich gehöre zu den Leuten, „die das falsch verstehen“. Das liegt entweder daran, dass es falsch ist oder „die Leute“ zu blöd sind, zu verstehen, dass eurer Meinung nach „Wahrscheinlichkeit“ und „Möglichkeit“ synonym genutzt werden können.

      Ich habe auf Textpassagen hingewiesen, warum das Ganze auf mich einen Eindruck macht, dass hier eine politische Agenda mitklingt. Das ist meine Interpretation, klar. Aber diese „absurd“ zu nennen, spricht mir ab, dieser Meinung sein zu können. Es ist wohlfeil, etwas für „absurd“ zu erklären, denn so muss man kein Gegenargument bringen. Wo liegt denn Deiner Meinung nach die Aussage eures Autors auf der Absurdheitsskala, „allerorten“ würde davon ausgegangen, Schwarz-Gelb würde eh die Wahl gewinnen?

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