Der NSU und das Versagen des Journalismus

Seit November vergangen Jahres ist der Nationalsozialistische Untergrund, kurz NSU, immer wieder in unterschiedlicher Intensität Thema. Dieser Tage kocht es wieder hoch. Und dabei wird deutlich: Die Berichterstattung, also der Journalismus rund um den Komplex bleibt deutlich hinter seinen Möglichkeiten zurück. Methoden des Crowdsourcings und Leakings sowie Verfahren des Prozess- und Datenjournalismus, die nunmehr auch nicht mehr ganz taufrisch sind, spielen hierzulande keine Rolle.

Einige Beobachtungen:

  • Es fing schon damit an, dass offensichtlich kein Investigativteam oder ein einzelner Redakteur eines größeren Mediums in den vergangenen Jahren die behördlichen Märchen von den „Dönermorden“ in Zweifel gezogen hat. Die Zunft, die sich gerne auch als vierte Macht im Staat sieht, wäre hier nötiger denn je gewesen und hat in ihrem Aufgabenbereich versagt.
  • Erstaunlich ist, dass nach wie vor offenbar ohne großen Zweifel den Verlautbarungen der diversen Behörden Glauben geschenkt wird. Deren Mitarbeiter in Vergangenheit immer wieder bewusst gelogen und vertuscht haben. Offizielle – oft nicht zweifelsfrei belegte – Narrative werden als Fakten akzeptiert. Doch was ist beispielsweise mit diesen Fragen: Wie das war mit dem Selbstmord der zwei NSU Mitglieder; dass es nur drei NSU Mitglieder gäbe; wer rief Zschäpe von einer Behördentelefonnummer aus dem sächsischen Innenministerium am 4.11.2011 an; warum wurden die Videos verschickt, wenn eigentlich alle Spuren durch den Brand im Wohnhaus der Zelle vernichtet werden sollten; ist Fromm aus freien Stücken als VS-Chef zurückgetreten oder kam er einer Entlassung durch Friedrich zuvor; usw. usf.
  • Wo bleibt der Mut von Redaktionen (und Beamten und Politikern), die Akten und Verschlusssachen, die offensichtlich in Redaktionen komplett oder ausschnittsweise zirkulieren, zu veröffentlichen? Außer diesem Protokoll (pdf) des nicht-öffentlich tagenden Innenausschuss vom 21.11.2011 ist mir nichts untergekommen. Vielleicht liegt es daran, dass entsprechende Leakingplattformen fehlen. So oder so: Leaking ist ein Akt des zivilen Ungehorsams und warum Informationen über einen solchen Vorgang in einer Demokratie mit solch Geheimnistuerei umgeben sind, ist dem mündigen Bürger a.k.a. Souverän nicht würdig. Allerdings haben Redaktionen selbstredend auch immer Angst davor, der Konkurrenz Informationen zu überlassen.
  • Online ist Journalismus ähnlich wie beim Fernsehen der Quote unterworfen: Fußball und Lady Gaga bringen nun mal enorme Klickzahlen. Doch gerade in dieser Logik der Klickzahlen erstaunt es, dass kein größeres Medium sich den Möglichkeiten des Netzes bedient, um hier aus dem Einerlei hervorzustechen. Hier die Themenseiten der Süddeutschen, der Tagesschau, von Spiegel Online und der FAZ. Ganz abgesehen davon, dass keine Redaktion ein dezidiertes Blog oder zumindest ab und zu etwa rund um Untersuchungsausschusstermine „live“ bloggt  – es wäre doch eigentlich nahliegend, eine Plattform oder eben Datenbank aufzubauen, die prozesshaft in Text-, Bild-, Audio- und interaktiven Grafikformaten sammelt, was Kenntnisstand ist (das gilt für andere Themen auch, etwa der Eurokrise): Wer sind die Personen und Akteure (Opfer, Familien, Täter, Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter, Politiker usw.), was sind ihre Interessen und wo liegen ihre Loyalitäten, wie sind sie miteinander verbunden; was sind bewiesene Fakten; worüber gibt es Gerüchte und was sind Indizien für sie und von wo stammen sie; an welcher Stelle gibt es Widersprüche; wie sieht es mit einer stetig fortgeschriebenen Chronologie aus und welche Termine stehen an. Das ließe sich alles mit einigem Geschick in interaktiver Form auf einer Themenseite anbieten, die einen wertvollen Dienst darstellen würde (und viele Klicks brächte). Ein Geschehen übersichtlich zu gestalten, aufzubereiten, zugänglich zu machen, halte ich für Journalismus. Und dabei sollte er sich allem bedienen, was möglich ist.
  • Man kann allerdings auch der Zivilgesellschaft einen Vorwurf machen. Während mit äußerster Energie per Crowdsourcing Plagiatjäger diverse Politiker zu Fall brachten (oder danach trachteten), ist auch durch die vielbeschworene „Netzgemeinde“ keine nennenswerte Plattform entstanden, die Fakten, Gerüchte und Indizien zum NSU zusammenträgt. Es bleibt einzig der recht ausführliche lineare textbasierte Wikipediaeintrag. Oder akribische Arbeiten von Einzelpersonen und von Antifagruppen – die aber augenscheinlich auch nur eingeschränkt Ressourcen zur Verfügung haben.

Was bleibt also? Die Feststellung, dass Journalismus auch im Internet heute immer noch vor allem aus Artikeln besteht, die – wenn es hoch kommt – auf einer Themenseite säuberlich hintereinander aufgereiht werden. Vielleicht hier und da mit einer Prise Infografik und Videoschnipsel gewürzt. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Redaktionssysteme, die CMS, schlicht zu mehr nicht in der Lage sind. Inhalte anders zu arrangieren und aggregieren, gar APIs oder semantische Technologien einzusetzen, sind diesen Systemen fremd. Solange sich Journalimus im Netz nicht von den Paradigmen der gedruckten Zeitung und den linearen Formaten TV und Radio emanzipiert, wird sich daran nichts ändern. Doch mit Journalismus, wie er 2012 im Netz möglich wäre, hat das alles wenig zu tun.

18 Gedanken zu „Der NSU und das Versagen des Journalismus“

  1. Danke, eine sehr gute Darstellung des Blinden Flecks im gegenwärtigen deutschen Journalismus. Leider nur noch traurig lächerlich, wie „Zeit“ einerseits und „Süddeutsche“ andererseits den offiziellen Verlautbarungen hinterherhecheln, mit „Vielleicht“ oder „Wahrscheinlich“ …
    Investigativer Journalismus findet wohl nur noch auf der Ebene A-B-C-Promis statt.
    Zum Fall „Becker“ durfte Prof. Buback immerhin auf 3sat sein ausführliches ProzessBlog veröffentlichen, aber gibt’s sonst noch was Aktuelles ?
    Wenn ich mich recht erinnere, hat einstmals die Verfassungsschutzaffäre „Celler Loch“ eine höchst kritische Würdigung von Ulrich Neufert in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erfahren, und danach ?
    Vielleicht ist einfach nix Interessantes mehr passiert ?
    All diese xxPlags interessieren mich nicht die Bohne – wo bleiben die xxLeaks ?

  2. > wer rief Zschäpe von einer Behördentelefonnummer
    > aus dem sächsischen Innenministerium am 4.11.2012 an

    Hier hat sich bei der Jahreszahl wohl ein Typo eingeschlichen…

  3. Ich hätte da auch noch was orthografisches: Widerspruch statt WiEderspruch.

    Bezugnehmend auf PitBull muss ich leider sagen, dass sich die ach so links-liberale, systemkritische taz augenscheinlich nicht mal schämt, „vielleicht“ oder „wahrscheinlich“ wegzulassen. Auch bei den öffentlich-rechtlichen Politikmagazinen (z.B. Panorama) fehlt diese kritische Distanz zu dem behördlichen Verlautbarungen. Für mich ist da noch so einiges offen.
    Die Netzgemeinde möchte ich da gar nicht sooo schelten. Es ist wesentlich einfacher an eine Doktorarbeit zu kommen als an einen internen Behördenbericht.

  4. Es ist so billig, von einem Versagen des Journalismus zu sprechen. Journalisten sind keine Ermittler in Mordangelegenheiten. Welche Mordfälle in Deutschland wurden durch Journalisten aufgeklärt?
    Selbst die zuständigen Behörden klären nicht alle Morde auf. Bestes Beispiel ist die Geschichte der RAF.

  5. Von Rechts nichts Neues

    Dass Verfassungsschutz und Rechtsradikale seit Jahren Hand in Hand arbeiten, ist spätestens seit dem gescheiterten NPD- Verbot bekannt, auch unter Bloggern. Dass dieses Thema wieder und wieder aufgewärmt werden wird, ergibt sich durch dessen Brisanz von selbst. Mag es auch nicht beweisbar sein, so ahnt doch jeder halbwegs intelligente Blogger, dass nicht erst seit GLADIO eine unheilvolle Beziehung besteht zwischen extremistischen Gruppierungen und staatlichen Behörden, die sich auf diesem Weg eine Art SA auf Abruf erschaffen haben.

    Wiegesagt, weiß jeder, kennt jeder. Dass die Blogospäre sich da lieber auf die tatsächlichen Vorgänge in Syrien und dem Iran als auch Uncle Sams geostrategischen Durchmarsch zur Weltherrschaft konzentriert, mag da nicht verwundern.Es stehen gerade ganz andere Probleme an, als die NSU und ihre Handlanger.

  6. Lest ihr eigentlich nicht die Süddeutsche Zeitung? da stand schon eine Menge drin. Nur Vorwürfe machen gilt nicht: Wie war bisher euer Beitrag und der der Netz-Leute zur Aufklärung?

  7. Die Erkenntnisse die mittlerweile zu Tage gefördert wurden, in ihrer Gesamtheit, lassen einem schon Übelkeit hochkommen. Dass sich die Lage für deutsche staatliche Strukturen (welche anscheinend Mitglieder die NSU angeleitet haben und seeeehr lange über die NSU Bescheid wussten) zuspitzt, ist unübersehbar.

    Außerdem wird man sicherlich die Frage stellen müssen, wenn Teile der deutschen Behörden eingeweiht waren und das über scheinbar sogar längere Zeit, wieso diese es nicht verhindert haben, dass Menschen getötet wurden, Menschen verletzt wurden, Bomben gezündet wurden, Raubüberfälle begangen wurden usw. – Die rechtliche Konsequenz aus diesem „Wegschauen“ dürfte jetzt schon feststehen, ich denke mal dass der Gesamtfall jetzt erst richtig ins Rollen kommt – und ob die drei Clowns der NSU die einzigen sind, ist noch eine ganz andere Frage.

    Tut mir leid, aber dies erinnert mich stark an Gladio-Netzwerke – dachte eigentlich diese Zeiten des staatlichen Terrors unter falscher Flagge (Strategie der Spannung) wären vorbei, es scheint leider nicht so zu sein.

  8. „•Es fing schon damit an, dass offensichtlich kein Investigativteam oder ein einzelner Redakteur eines größeren Mediums in den vergangenen Jahren die behördlichen Märchen von den „Dönermorden“ in Zweifel gezogen hat. “
    Genau! Keine Zeit, unterbesetzt, ueberfordert….
    Es ist dringend noetig, dass Qualitaetsjournalismus wieder bezahlt wird! Dazu muss er fuer den Leser sichtbar werden. derzeit kann ich den Unterschied zwischen guter und schlechter (und damit billigerer) Recherche nicht erkennen, solange alles nur serioes ausieht! Dazu gibt es allerdings ein neues Projekt (Medienranking).
    https://www.facebook.com/Medienranking

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