Das Internet wird auch in Deutschland erwachsen: Ein Verbund von Politikanwendungen wird die Bürger in naher Zukunft ermächtigen, wieder selbst Entscheidungen zu treffen
Einöde. So lässt sich jener Teil der Internetlandschaft beschreiben, der von der Bundesregierung bestellt wird. So oft auch von E-Demokratie die Rede ist, so wenig wird von den Bundesministerien dafür getan. Anders in den USA und Großbritannien: Dort werden OpenGovernment-Initiativen vorangetrieben, wird Regierungs- und Verwaltungshandeln transparenter, soll die Teilhabe und Mitsprache der Bürger verbessert werden. Einiges daran ist kritikwürdig – es drückt aber eine realistische Beurteilung der Potenziale des Internets für gesellschaftliche Prozesse aus.
Dagegen zeugen etwa die in der vergangenen Woche verkündeten 14 Thesen des Bundesinnenministers zur Netzpolitik von großem Nachholbedarf. Zwar herrschte Erleichterung darüber, dass Thomas de Maizière sich überhaupt konstruktiv mit dem Thema auseinandersetzen will. Doch hatten die vorausgehenden „netzpolitischen Dialoge“ gezeigt, dass der CDU-Politiker den Blick nicht über den Tellerrand richtet. Dass die US-Regierung unter data.gov zahlreiche Datensätze aus allen Ressorts veröffentlicht, war dem Minister nach eigenem Bekunden sogar unbekannt.
Kein Wunder, dass man für vergleichbare Ansinnen bei Thomas de Maizière keine Spur findet. Seine zwölfte These behandelt zwar „staatliche Angebote und Innovationen im Netz“, kommt aber über Leerformeln im Beamtendeutsch kaum hinaus. Immerhin – ein einziger Satz weist in die richtige Richtung: „Online-Konsultationen können Beteiligungen von Verbänden und Interessengruppen im kommunalen und staatlichen Rechtssetzungsverfahren durch eine zusätzliche Form der Bürgerbeteiligung ergänzen.“
Damit – und mit einer im Auftrag von de Maizières Ressort verfassten Studie über die Möglichkeiten von „Online-Konsultationen“ – scheint das Engagement aber bereits erschöpft zu sein. Weitere Haushaltsmittel über anderthalb Millionen Euro, die für den Aufbau einer „Beratungsstelle E-Partizipation“ bereitgehalten wurden, rief das Innenministerium gar nicht erst ab. Das Potenzial des Internet als Demokratiemedium – von der Regierung wird es hierzulande noch nicht verstanden.
Andere sind da schon viel weiter. Der Internetadvokat Tim O‘Reilley spricht bereits von „Government 2.0“, von einer Regierung als offener Plattform, und bedient sich dabei eines Vergleichs mit der Computerindustrie. Deren erfolgreichste Modelle seien diejenigen gewesen, die ein komplettes Ökosystem für Partizipation bereitgestellt hätten: etwa der PC, das Internet selbst oder auch das iPhone. Deshalb, meint O‘Reilley, dürfe eine Regierung ihre Informationen nicht einigen wenigen Lizenznehmern zur Verfügung stellen, sondern solle sie als Rohdaten wirklich frei geben. Dann könnte jeder Dienste entwickeln, mit denen die direkte Teilhabe des Souveräns an politischen Entscheidungen ermöglicht werden. Das Netz als Schnittstelle der Demokratie, mehr noch: als ihr Betriebssystem.
Längst formiert sich auch in Deutschland eine Szene, die für die Ziele von OpenGovernment und OpenData eintritt. Noch sind es eher kleinere Gruppen, die versuchen, die Politik unter Zugzwang zu setzen. Die Daten, die sich im Besitz des Staates befinden, gehörten schließlich der Allgemeinheit, lautet eines ihrer Argumente. Doch die Bewegung wächst – und sie bringt erste prototypische Anwendungen hervor. Zum Beispiel der BundesTagger, eine Applikation, die Plenarprotokolle bündelt, sie durchsuchbar macht und Kommentare ermöglicht. Die Parlamentsverwaltung zieht jetzt nach: Bald soll eine Anwendung unter anderem für das iPhone herauskommen, mit der man mobil auf die Drucksachen des Bundestags zugreifen kann.
OpenBundestag ist da schon einen Schritt weiter. Sven Regels Projekt wird in Kürze starten und alle möglichen Informationen über Abgeordnete und Parlamentsschriftstücke so aufbereiten, dass sie für Nutzer weiterverwertbar sind. Die Anwendung sei faktisch als Nebenprodukt seiner Magisterarbeit über Fraktionsdisziplin entstanden, sagt Regel. Eine zentrale Funktion werde die Darstellung des Standes der Gesetzgebung sein, erklärt der Informatiker und Politikwissenschaftler – und beschreibt seine Motivation so: „Es interessiert mich schlicht selbst, einen besseren Zugriff auf diese Informationen zu haben. Aber es ist genauso für andere hilfreich, wenn man sie sinnvoll aggregiert.“
Bereits als Prototyp online gegangen ist ein Projekt, das sich direkt dem Kernstück des Regierungshandelns widmet und noch für einiges Aufsehen sorgen dürfte:OpenHaushalt.de. Mit der Anwendung soll der Bundesetat wieder zum Material politischer Auseinandersetzung werden. Und zwar nicht nur einiger Haushaltspolitiker. Sondern des „Souveräns“. Bisher sind die rund tausend Druckseiten der Etatentwürfe nur schwer durchschaubar, eine gesellschaftliche Debatte findet allenfalls über die groben Kernziffern statt. OpenHaushalt.de zeigt schon im jetzigen Stadium, was bald möglich sein wird: Zum Beispiel sollen sich Zusammensetzung und Entwicklung aller einzelnen Haushaltsposten durchsuchen und verlinken lassen. Ein ähnliches Projekt in Großbritannien hat aufschlussreiche Blicke auf die Verteilung der Haushaltsgelder ermöglicht und die politische Debatte befeuert: wheredoesmymoneygo.org.
Ebenfalls von einem britischen Vorbild inspiriert ist ein Angebot der brandenburgischen Landesregierung, das zeigt, wie auch hierzulande Verwaltungen in Sachen Beteiligung sinnvoll auf das Internet setzen. Ähnlich wie fixmystreet.org können Bürger über eine Software namens Maerker schnell und unkompliziert Infrastrukturprobleme an die Behörden melden – etwa kaputte Laternen vor ihrem Haus oder Schlaglöcher auf der benachbarten Straße.
Bereits ein Viertel der Kreisverwaltungen in dem rot-rot regierten Bundesland nutzt das Programm. Dass die Resonanz auf das Angebot sehr positiv ist, wie das zuständige Potsdamer Innenministerium erklärt, dürfte nicht nur am eingesparten Arbeitsaufwand der beteiligten Behörden liegen. Sondern auch daran, dass diese sich verpflichtet haben, binnen drei Tagen auf Benachrichtigungen aus der Bevölkerung zu reagieren. Getroffene Maßnahmen und der Status der Problembearbeitung werden unmittelbar im Netz dokumentiert. Andere Bundesländer planen inzwischen die Einführung ähnlicher Systeme. In Berlin wird darüber nachgedacht, die Maerker-Idee in ein neues „IT-Kunden- und Fallmanagement“ der Ordnungsämter zu integrieren. Und eine Reihe von Städten und Gemeinden experimentieren bereits mit Online-Bürgerbeteilungshaushalten.
Zu Beginn seines dritten Lebensjahrzehnts geht so die Pubertät des Internet zu Ende. Das Netz ist im wahrsten Sinne des Wortes zur Kulturtechnik geworden – eine, die immer ausgefeiltere und reifere Anwendungen hervorbringt. Und wenn man so will demokratischere: Man denke nur an das Luft- und Satellitenbildmaterial des virtuellen Globus von GoogleEarth. Was vor 15 Jahren nur Geheimdiensten zur Verfügung stand oder viel Geld kostete, ist längst für fast alle zugänglich geworden.
Es zeichnet sich ab, dass in nächster Zeit immer mehr solcher Anwendungen immer mehr Informationen aus Ministerien und Parlamenten befreien und einer politischen Bearbeitung zugänglich machen. Politiker werden sich gegenüber immer besser informierten Bürgern rechtfertigen müssen. Und die werden erkennen, dass sie für die meisten Entscheidungen eigentlich gar keine Politiker mehr benötigen.
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Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 26/10 – Illustration von Der Freitag