Ein Genre wird erwachsen

Dieser Beitrag erschien zuerst in „M – Menschen Machen Medien“ (dju/ver.di) im März 2017.

Es ist sieben Jahre her, dass M erstmalig Datenjournalismus als Titelthema brachte. Unter der Überschrift „Spannende Recherche im Netz” wurde von damals noch exotisch klingenden Begriffen wie „Open Data” und „Datenbank-Journalismus” berichtet. Seither ist aus einem Nischenthema ein Genre erwachsen.

Indidikator für die Entwicklung dieses Genres ist etwa, dass das Reporterforum seit zwei Jahren in seinem Reporterpreis Auszeichnungen für Datenjournalismus vergibt. Oder die langsam aber stetig steigende Zahl der Stellenanzeigen, wie sie unlängst die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte: Der mittlerweile vierte Datenjournalist für die Redaktion wird gesucht.

Die Datenjournalisten der SZ hatten ihren Anteil an den „Panama Papers”, der Recherche der SZ und anderer Redaktionen über die Steueroase in Mittelamerika 2016. An ihrer Herangehensweise lässt sich gut zeigen: Die eine Definition von Datenjournalismus gibt es nicht. Oder besser gesagt, dass Selbstverständnis darüber, was Datenjournalismus genau ist, variiert. Die Panama Papers etwa könnte man auch schlicht als „Computer Assisted Reporting” (CAR, computergestützte Recherche) verstehen – eine jahrzehntealte Methode im investigativen Bereich. Datenvisualisierungen spielten bei der Veröffentlichung des preisgekrönten Werks über die Steueroase keine zentrale Rolle. Doch ist es dieser Faktor, den manche als wesentlichen Aspekt für Datenjournalismus oder data-driven journalism (#ddj) verstehen: Die zugrundeliegenden Daten spielen nicht nur in der Recherche, sondern auch in dem veröffentlichen Werk in Form visueller Elemente eine wichtige Rolle. So oder so, einig dürften sich alle sein: Datensätze sind beim Datenjournalismus wesentlich. Mittels manueller Auswertung, etwa per Tabellen-Kalkulationsprogrammen wie Excel, oder halb- oder ganz automatischen Verfahren durch Softwarebibliotheken oder selbstgeschriebenem Programmcode werden die Datensätze ausgewertet und nach Auffälligkeiten abgeklopft. Als Faustregel bei einem datenjournalistischen Stück kann gelten: 70 Prozent der Arbeit steckt in der Datenbeschaffung, -säuberung und -validierung. Bevor die Daten überhaupt veröffentlichungsreif sind – in welcher Form auch immer – liegt viel Arbeit hinter den Datenredakteuren. Das fängt an beim „Befreien” der Daten aus Schriftstücken oder pdf-Dateien inklusive Lesefehlern bei der Umwandlung, reicht über die Vereinheitlichung von Formaten bis hin zu zahllosen weiteren Fallstricken, die sich während des Prozesses auftun. Sprich: Wer sich mit Datenjournalismus befasst, sollte eine hohe Frustationsschwelle und eine gewisse Affinität für Statistik mitbringen.

Die Belohnung für hartnäckiges Graben in Daten­bergen sind Erkenntnisse und Perspektiven auf Sachverhalte, die bei klassischen Recherchemethoden verborgen blieben. Und diese lassen sich pointiert an die Leser_innen dank einer mittlerweile erklecklichen Anzahl an Visualisierungmethoden und -formaten unmittelbar weitergeben.

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Automatisier' Dich, Lokaljournalismus

Die Stärke des Lokaljournalismus lag immer auch in einer groben ortsbasierten Personalisierung. Im Digitalen nutzt er die vielfältigen Möglichkeiten dafür kaum. Das liegt wesentlich am Print-Paradigma, das sich in den Content Managment Systemen (CMS) manifestiert und Weiterentwicklung verhindert. Stattdessen braucht es Herangehensweisen, die kleinteilig Alltagsinformationen in einzelne Datenpunkte zerlegt und abrufbar macht.

Manchmal träume ich davon, es gäbe zeitgemäßen Lokaljournalismus. Als digitalen Service, der mir morgens oder ad hoc punktgenau wesentliche Informationen für den Alltag bezüglich meines Wohn- und Arbeitsorts mitteilt. Der mich über die Verkehrssituation (S-Bahnausfall in der ganzen Stadt), Politik (Hotelneubau in deiner Nachbarstraße beschlossen), Kultur (Theaterstück X läuft kommende Woche zum ersten Mal), Infrastruktur (Sperrung des Schwimmbads wg. Renovierung), Angebote (Supermarkt an der Ecke: 10% auf alles), Bildung (wieder Kitaplätze frei), Nachbarschaft (wer hilft mit bei Renovierung des Grillplatzes), Sport (die B-Jugend hat 3:5 verloren), Alltag (morgen ist Sperrmüll) usw. usf. informiert. Gerne darf dieses Angebot auch „lernen“, was mich interessiert und mich auf Hintergrundstücke sowie Reportagen mit weiterem lokalen Bezug hinweisen.

Es ist schwer verständlich, warum Lokalzeitungen immer noch nicht hyperlokale oder sublokale Angebote dieser Art anbieten: Ein personalisierter Bericht – egal ob per Mail, App, Website, Messenger, Spracherzeugung (z.B. Amazon Echo) übermittelt. Die Daten dafür sind vorhanden, mehr und mehr davon. Aus ihren Strömen lassen sich kurze und knappe Informationshappen straßen- und interessengenau automatisch generieren. Es wird wahrlich keine Raketentechnologie mehr dafür benötigt, um klein damit anzufangen.

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